Prof. Dr. Klaus Hammer · Mitglied des Internationalen Kunstkritiker-Verbandes (AICA)
DIE NATUR IN ZEICHEN VERSTEHEN
Das bildhauerische und malerische Werk des Künstlers Lothar Oertel
1955 wurde er in Königs Wusterhausen geboren, er hat als Zimmermann gearbeitet und sich als Autodidakt den Holzbildhauer Hans Brockhage als Lehrer und Begleiter erwählt. Zehn Jahre später, 1999, lernte er den interdisziplinär und intermedial arbeitenden Deutschkanadier Friedhelm Lach kennen, verbrachte bei ihm einen längeren Arbeitsaufenthalt und betrachtet ihn seither als seinen zweiten Lehrer, hat ihm der Kunst-Professor aus Montreal doch beigebracht, was »interaktive Integration« in der Kunst bedeutet. Das Dada-Motto: »Leben ist Kunst und Kunst ist Leben« ist dem kreativen und experimentellen Künstler Lothar Oertel zu einer Lebensmaxime geworden. Sein Thema – das Eingebundensein des Menschen in die Natur und sein gleichzeitiges Getrenntsein von ihr. Auf dieser Grenzlinie zwischen der inneren und äußeren Landschaft, der inneren und äußeren Befindlichkeit des Menschen bewegt er sich. Niemals verweisen seine Arbeiten auf real Existierendes, sondern vielmehr auf Zustände des Bewußtseins, die aus Erinnern, Erkennen und Ahnen gespeist sind.
Das Material, vornehmlich Holz und Stein hat den Bildhauer Oertel zu der Erkenntniss gebracht, daß alles, was heute existiert, die Summe der vorhergegangenen Erfahrungen ist und die Folgen bereits stattgefundener Veränderungen in sich trägt. Man muß um die Beschaffen der Natur wissen, muß die möglichen Ereignisse spüren und erforschen. Der Künstler greift ein, indem er verdeutlicht. Insofern hinterläßt er Spuren, die manchmal mit den Dingen übereinstimmen, manchmal im Widerspruch dazu stehen. Bedeutet die Arbeit mit dem Holz oder Stein ein Weiterdenken und Vollenden der von der Natur aus gegebenen Form, so sind die Malerei oder Zeichnung für ihn ganz Menschenwerk, das die Natur in Zeichen verstehen möchte: ein Lobgesang des Aufwachsens und Prangens, Loslösungen von Erdschwere und Kümmernis.
Dem Zufälligen, Spontanen folgen die Definitionen, die Bestimmung durch Linie, Schrift und Zeichen. Auch Oertel bedient sich der Idee der magischen realisation mit gegenstandslosen Mitteln, die sich als eine wesentliche Aussagemöglichkeit unseres Jahrhundert erwiesen hat. »Im Wechsel von Intervention und Kollaboration«, so der Künstler, entsteht »in einem autoreferenziellen Prozeß die Skulptur oder die Malerei als ein neues Kommunikationsmittel und evokatives Element in Kunst und Kultur«.
Oertel artikuliert Erfahrungen durch Abdrücke organischer wie anorganischer Fundstücke, aber auch Erfindung verwandten Formvokabulars. Er überträgt Prinzipien und Dingerfindung des Surrealismus auf die Skulptur. Die Zeichen und Formen durchdringen sich, schlingende Formkürzel, an Versteinerung gemahnende Buckel, Greifbewegungen und Bewegungsabläufe spiegeln sich wieder. Die Formen befinden sich in einem Prozeß der Entstehung des »Noch nicht«:
Improvisation, Spontanität, Gestisches und Prozeßhaftes spielen eine Rolle, auch das Moment der Authentizität der aus der Realität herrührenden Abdrücke.
Die Bilder des Informel waren Schauplätze von Eruptionen, Verletzungen und ekstatisch bearbeiteten Bildkörpern. Oertels Bilder mit ihren schichtweise übereinander gelegten Strukturen, Collagen, die ins Dreidimensionale streben, oft zu Assemblagen werden, sind Spielfeld einer Choreographie, deren Spuren sich ohne Zentrum und ohne Raumkoordinaten verdichten und lösen. Die Farbe wird zum schlingenden, dehnbaren Urstoff. Der Prozeß, der Schöpfungsvorgang, bleibt sichtbar und erlebbar, schnell, leicht, bewegt, zaudernd, rhythmisch, tänzerisch, sprudelnd. Der Künstler verliert sich und findet sich wieder zurecht, antwortet auf ungeordnet erscheinende Zusammenhänge diszipliniert, auf geordnete impulsiv-gegenläufig. Die Zwiesprache, die Gegensätzlichkeit ist zum Bestandteil des Malprozesses geworden. Will man das Farb-Formen-Repertoire Oertels beschreiben, so könnte man an Erdformationen, Gesteinsschichten, an eine wundersame Vegetation, an wucherndes und welkendes Blattwerk, an chimärenhaften Farben- und Lichtzauber denken – und doch spielt sich vor unseren Augen nichts ab, was sich erfahrungsgerecht bezeichnen ließe.
In ihrem zufälligen Beieinander geraten die Gegenstände und Formen in ein bestimmtes Spannungsverhältnis, sie dringen aufeinander ein, bekämpfen und stützen sich zugleich. In ihren Zwischenräumen lebt ein geheimes menschliches Drama.
Klaus Hammer (Mai 1999)